Als wir erst mehr waren und dann weniger wurden

Ein Reisebericht aus den Urner Alpen
Von Hans Sterr

Donnerstag, 22. Juni 1995
Für die Tour durch die Urner Alpen sind sieben Personen angemeldet. Eine schöne Gruppe. Alle freuen sich schon auf die Reise.
Freitag, 23. Juni
Hans R. meldet sich krank. Da waren es noch sechs.
Samstag, 24. Juni
Bei Peter entzündet sich der Ellenbogen. Verbleiben fünf.

Sonntag, 25. Juni
Herbert, Gisela, Günter und Hans fahren gemeinsam Richtung Schweiz. Reiner ist schon auf der Sustli-Hütte, wo wir ihn treffen. Erster Schreck: Der Sustenpass ist noch gesperrt, am Samstag hat es einen halben Meter geschneit. Das Wetter ist durchwachsen.

Die Sustli-Hütte mit dem Grassen
Die Sustli-Hütte mit dem Grassen


An der Chanzelflue

Montag, 26. Juni
Das Wetter ist phantastisch, schöner könnte man es nicht zeichnen. Wir nutzen es zur Einstiegstour: Überschreitung der Chanzelflue (2444m), eine Kletterei im zweiten Grad. Die überhängenden Abseilstellen gefallen nicht allen. Das Bier auf der Hütte ist gut, die Wirtsleute äußerst nett. Nachteil: Die Schweizer Hütten kosten etwas teurer ...

Dienstag, 27. Juni
Wir verlassen den bewohnten Bereich der Urner und steigen über den Stössenfirn zum Grassen (2947m) auf. Der weiche Schnee (super Wetter, s.o.) und das schwere Gepäck prüfen die Kondition. Die Mühe lohnt: Die Aussicht vom Grassen ist umwerfend. Wir steigen weiter zum unbewirtschafteten Grassenbiwak. Hier ist es sehr gemütlich, doch leider haben sich noch fünf Franzosen angekündigt. Da wird's eng werden! Wir genießen die Nachmittagssonne noch in der Einsamkeit. Reiner und Hans testen den Weinkeller des Biwaks (gibt's echt !). Die Franzosen kommen nicht, wir sind ganz allein. Frankreich lebe hoch!


Auf dem Weg zum Gipfel des Grassen

 


Beim Abstieg von der Wichellücke war ein Bergschrund zu überwinden

Mittwoch, 28. Juni
Wir steigen auf in Richtung Stössenstock am Grassengrat. Über den Grat sollte es eigentlich weitergehen, aber bei Erreichen des Grates macht der Himmel zu, wir befinden uns in dichtem Nebel. Wir ändern die Route und wählen den Weg über die Wichellücke, um über den Gletscher ins Tal ab- und von dort zur Sewenhütte aufzusteigen. Nach neun Stunden Tour kratzt der Aufstieg zur Hütte an den Kraftreserven. Die Hütte ist völlig leer und leider noch unbewirtschaftet, unser Proviant neigt sich dem Ende zu. Nach unserem Aufenthalt sind auch die Bierreserven der Hütte erschöpft.

Donnerstag, 29. Juni
Herbert klagt schon am Morgen über Übelkeit, nach einer Stunde Aufstieg bricht er die Tour ab. Gisela begleitet ihn ins Tal. Da waren's nur noch drei. Wir steigen über den Sewenzwächten-Gletscher Richtung Bächenstock (3008m). Leider wählen wir am Grat den falschen Einstieg, so daß wir es statt mit leichter Kletterei mit brüchigen Dreier-Stellen zu tun bekommen. Etwas angefressen erreichen wir den Gipfel, genießen aber trotzdem die Rast ausgiebig. Der Weiterweg auf dem Grat zum Zwächten (3078m) erweist sich als äußerst brüchig, was zeitraubende Sicherungsmaßnahmen nötig macht. Reiner schmilzt mit den letzten Gasreserven nochmal Schnee; danach ist's vorbei mit dem Trinken.

Wir steigen weiter auf zum Zwächten; ein Dreitausender zum Mitnehmen. Danach geht's eigentlich nur noch über den Grat und den Glattfirn hinunter zur Hütte. Dieser Grat aber ist ein Schutthaufen, der jeden Abstiegsversuch mit schwerem Steinschlag beantwortet. Nach zwei Stunden und drei Fehlversuchen finden wir endlich einen gangbaren Übergang und streben völlig ausgelutscht am Seil über den Gletscher der Kröntenhütte zu, die wir nach fast vierzehn Stunden Tour erreichen. Bier. Essen. Durchatmen. Günter kann noch jodeln.


Am Einstieg zum Westgrat...


... und am Gipfel des Bächenstocks


Am Gipfel des Zwächten
Freitag, 30. Juni
Wir brechen auf, um das Päuggenstöckli (2548m) zu erklettern. Bereits nach einer halben Stunde muß ich umkehren. Das linke Knie hat den Belastungen des Vortages nicht standgehalten. Bleiben zwei: Reiner und Günter steigen weiter bis zum Einstieg. Die notwendige Konzentration und Moral für eine Dreier-Kletterei fehlt, die Umkehr ist ratsam. Günter könnte noch, aber allein... Wir verbringen den Tag zur Erholung auf der Hütte im Liegestuhl. Bier, Essen, Ruhe.

Samstag, 01. Juli
Das Sonnenschutzmittel war der wichtigste Ausrüstungsgegenstand, wir waren fast immer allein, die Gruppe hat gut zueinander gepaßt und Reiner hat seine Sache sehr gut gemacht: Es war eine fantastische Tour. Nur die Ausfallquote war sehr hoch ...


Groß Spannort, gesehen vom Zwächten